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ZUM EUROPÄISCHEN PROTESTTAG DER MENSCHEN MIT BEHINDERUNG, 05.Mai 2021:

Nicht nur deine Stimme für Inklusion
Plädoyer für das Zusammenrücken in Zeiten der sozialen Distanzierung
BiBeZ e.V. Heidelberg

„Deine Stimme für Inklusion“, so lautet das diesjährige Motto des Protesttages der Menschen mit Behinderungen, der jedes Jahr am 5. Mai begangen wird. Jedes Jahr werden in dieser Zeit Stimmen laut, die die Chancenungleichheit zwischen Menschen mit und ohne Behinderung thematisieren. Und noch mehr Stimmen für Inklusion, für das gute Zusammenleben aller Menschen, will man mit diesem Motto gewinnen. Doch genügen Stimmen dafür?
Wir vom BiBeZ e.V. Heidelberg, ein Verein, der sich für die Belange von chronisch erkrankten und behinderten Frauen einsetzt, glauben nicht, das Stimmen genügen, um Ungleichheiten zu beseitigen. Gerade in schwierigen Zeiten und Zeiten sozialer Distanzierung tritt die Chancenungleichheit in der Gesellschaft noch stärker hervor und viele Stimmen werden laut, zu Recht. Schwerfällig bleibt unser System dennoch, wenn es nicht um kapitalistische Interessen geht. Wir wollen hier konkrete Ansätze liefern, um nicht nur Stimmen für unser Interesse, einer inklusiven Gemeinschaft, zu gewinnen, sondern Handlungen aufzuzeigen, die ein soziales Zusammenrücken ermöglichen.
Es geht uns um Barrierefreiheit, und gerade jetzt um den barrierefreien Zugang zur ärztlichen Versorgung. Wer als Mensch mit Behinderung eine Facharztpraxis mit barrierefreiem Zugang sucht, der ist selbst in unserem mit Ärzt:innen sehr gut ausgestatteten Raum schlecht bedient. Barrierefreie Augenärzt:innen, Zahnärzt:innen, Gynäkolog:innen, ja selbst Physiotherapeut:innen oder Psychotherapeut:innen sind Mangelware. Obwohl dieser Fakt lange bekannt ist scheint sich nichts zu verändern. Gibt es zu wenig Anreize, barrierefrei zu sein?
Was man als Arztpraxis tun kann ist, sich bei Heidelberg Hürdenlos als barrierefreie Praxis zu melden oder als Suchender auf der Homepage heidelberg.huerdenlos.de nach barrierefreien Angeboten und Institutionen nachzuschlagen. Aber viel wird man dort dennoch nicht finden. Und das liegt nicht nur an rein baulichen Schwierigkeiten. Sehr oft werden auch andere Menschen, die etwa durch Gehörlosigkeit oder Blindheit andere Zugänge benötigen, schlicht vergessen. Und meistens sind es nicht die äußeren Hürden, die Menschen ausschließen, sondern die inneren. Es ist die Überforderung der Menschen oder ihr Unwille, mit Vielfalt umzugehen und flexibel auf Situationen zu reagieren. Denn selbst, wenn die baulichen Bedingungen nicht barrierefrei sind oder kein Gebärdendolmetscher vorhanden ist, kann man einfach mal anpacken, jemanden tragen, jemanden im Rollstuhl untersuchen oder schriftlich mit jemandem kommunizieren. Man kann Begleitpersonen und Assistent:innen in Praxen zulassen, selbst wenn das irgendwelchen Pandemievorschriften widerspricht, einfach nur aufgrund des reinen Menschenverstandes. Und man kann Menschen fragen, mit ihnen sprechen, sich einlassen, sich interessieren und gemeinsam individuelle Lösungen finden, und das alles jenseits langwieriger politischer Prozesse zum Thema Behinderung.
Und warum sollte man das tun? Einfach, weil es glücklich machen kann, weil es ein zutiefst befriedigendes Gefühl ist, sich auf die Vielfalt der Menschen einzulassen und wahre Begegnung zu erleben. Denn jeder Moment der wahren Begegnung zwischen Menschen ist Leben. Und ein freier und offener Geist, dem eine konkrete Handlung folgt, ist mehr wert als tausend bloße Worte für die gute Sache.

 

 

 

ZUM DIVERSITY-TAG, 26. Mai 2020:

Vielfalt um jeden Preis!

Diversity in Zeiten von Corona

Kommentar des BiBeZ e.V.

Die Welt scheint langsam aufzuatmen. Lockerungen winken überall. Es scheint, als würde mit den Vorboten des Sommers auch die Corona-Krise weichen. Doch ist wirklich alles vorbei? Nein, für manche geht es jetzt erst richtig los.

Es ist bekannt, dass die sogenannte Corona-Krise viele Kommunen und Städte vor besondere Herausforderungen stellt. Viele Kommunen finden sich aufgrund der Maßnahmen, die getroffen wurden, um der Pandemie beizukommen, in einer finanziell herausfordernden Lage, die nicht vorherzusehen war und Abwägungen mit sich bringt, was die Verteilung der Finanzen betrifft.

Da alle, die wesentlich von kommunaler Finanzierung profitieren und überhaupt erst durch sie existieren können, eventuelle zukünftige finanzielle Einschränkungen ganz wesentlich betreffen, wollen wir gerade heute, am Tag der Vielfalt, zum Nachdenken darüber anregen. Wir wollen beleuchten, was es bedeutet, wenn das Soziale unter die Räder des Marktes gerät und Diversity droht, zu einer hippen unternehmerischen und blutleeren Floskel zu verkommen.

Unsere Klientinnen gehören zum größten Teil der sogenannten Risikogruppe an, da wir Bildungs- und Beratungsarbeit für Frauen mit chronischen Erkrankungen/Behinderungen leisten, und dies schon seit 28 Jahren. Wir arbeiten als selbst von chronischen Erkrankungen/Behinderungen betroffene Fachpersonen für unsere Klientinnen und zählen uns damit ebenfalls zu dieser Risikogruppe, für deren Schutz so viel einschneidende Maßnahmen innerhalb der letzten Monate getroffen wurden. Wir hatten in dieser Zeit wie viele andere auch hohe Beratungsanfragen, da bestimmte Einschränkungen alles andere als barrierefrei waren und insbesondere Menschen mit psychischen Problematiken vermehrten Beratungsbedarf hatten. Zudem sind viele unserer Klientinnen auch in Zeiten eines Virus auf Unterstützung durch Menschen angewiesen, was in all der Zeit nur erschwert und mit höheren Ausgaben möglich war.

Aufgrund dieser diversen Problematiken, die sich an vielen Stellen mit den getroffenen Einschränkungen teilweise auch sehr offen geschnitten und widersprochen haben, hatten wir, wie ebenfalls viele andere soziale Organisationen, viel wertvolle Arbeit unter erschwerten Bedingungen zu leisten.

Lange Jahre haben wir um eine sichere Finanzierung unserer Arbeit gekämpft. Und dennoch sind wir davon bedroht, dass unsere Finanzen nicht mehr auf solch sicherer Grundlage stehen, da die Krise eine Menge ungeahnter Ausgaben mit sich bringt. Primär muss das kapitalistische System aufrechterhalten und das Soziale untergeordnet werden, daran konnte auch Corona nichts ändern, auch wenn das Soziale in den letzten Monaten als das eigentlich Systemrelevante erkannt wurde.

Wenn die Finanzierung des Sozialen aufgrund der Auswirkungen der Corona-Maßnahmen gefährdet ist, welche auch für uns als Risikogruppe oftmals schwierig waren und nicht unbedingt als ein passendes und überlegtes Instrument erschienen, dann würde das auf uns geradezu paradox und mindestens unverständlich wirken. Wir sind und arbeiten für die so viel besprochene Risikogruppe und leisteten gerade in der letzten Zeit wie so viele in ähnlichen Bereichen unter wesentlich erschwerten Bedingungen umso wertvollere Arbeit. Und nun darf im Zuge der sich ankündigenden finanziellen Krise nicht zur Debatte stehen, ob die in der letzten Zeit so viel gerühmte Soziale Arbeit finanzierungswürdig ist. Diese Frage würde direkt auf die sogenannte Risikogruppe zurückschlagen, in deren Namen und zu deren Schutz so viel veranlasst wurde. Dieser Widerspruch darf so nicht zugelassen werden.

In den letzten Monaten kam so mancher Optimist auf die waghalsige Idee, das kapitalistische System werde durch die Hervorhebung des Sozialen wenn auch nicht infrage gestellt, so doch zumindest auf ein gesundes Maß abgemildert. Doch nun steht sie wieder im Raum, die Frage, was uns wie viel wert ist und monetären Mehrwert verspricht und welchen Preis wir für die Teilhabe aller Menschen bereit sind zu zahlen. Doch kann und darf Vielfalt wirklich käuflich sein, darf sie überhaupt zur Debatte stehen?

Uns ist bewusst, dass die Situation nicht leicht ist und einige um ihre Existenz ringen. Aber wir alle sollten dabei immer im Kopf behalten, wessen Schutz in all den Monaten so sehr im Fokus stand. Es wäre wenig verständlich und geradezu ironisch, Stellen und Organisationen zu gefährden, die immer und besonders in der letzten Zeit für eben diese Risikogruppe arbeiteten und immer wieder die Interessen dieser besonderen Gruppe betonen, welche sonst so leicht übersehen werden. Vor allem am heutigen Tag, dem Diversity-Tag, dem Tag der Vielfalt, sollte man darüber nachdenken, wer wessen Schutz bedarf, wer selbst auf die Beine kommt, wer über wen im Sinne des Schutzes bestimmt und wie man dafür sorgen kann, dass sich bestimmte Gruppen von Menschen wahrhaftig ermächtigen und vielfältig sein können.

Nicoletta Rapetti

 BiBeZ-Team

 

ZUM EUROPÄISCHEN PROTESTTAG DER MENSCHEN MIT BEHINDERUNG, 05.Mai 2020:

Vorsicht, die Risikogruppe spricht:

Ein kritischer Kommentar zum Protesttag der Menschen mit Behinderungen

Heute ist der 5. Mai., traditionell der Protesttag von Menschen mit Behinderungen. An diesem Tag geht man auf die Straße, um die immer noch vorhandene Ungleichheit der Chancen von Menschen mit Behinderungen anzuprangern. Eigentlich. Wenn heute nicht auch ein weiterer Tag in der Corona-Krise wäre. Doch um welche Krise handelt es sich hier? Geht es um einen Virus, der eine Krise verursacht? Nein. Vielmehr bringt die aktuelle Situation Missstände und Ungleichheiten zutage, die schon lange bestehen und nicht durch einen Virus verursacht wurden, sondern politischer Natur sind. Und bei all dem wird wieder die permanente Forderung der Menschen mit Behinderungen/chronischen Erkrankungen mit Füßen getreten, denn es wird wieder über eine bestimmte Gruppe von Menschen gesprochen, anstatt sie selbst sprechen zu lassen, über die sogenannte Risikogruppe

Einige Menschen mit Behinderungen/chronischen Erkrankungen befinden sich gerade in einer kuriosen Situation: ihre Gruppe wächst und wächst. Jeder und jede scheint plötzlich der sogenannten Risikogruppe anzugehören. Da kämpfte man als Mensch mit Behinderung/chronischer Erkrankung bisher dafür, als ebenso normal anerkannt zu werden wie alle anderen auch, und nun stellt sich heraus, dass die Hälfte der Bevölkerung mit chronischen Erkrankungen behaftet zu sein scheint, von denen bisher niemand etwas ahnte. Auch das Alter einer Person erhält dabei den fragwürdigenden Status einer chronischen Erkrankung. Zum Schutze der Menschen mit Vorerkrankungen und Gesundheitsrisiken werden plötzlich Maßnahmen durchgeführt, von denen die „Urrisikogruppe“ nie zu träumen gewagt hätte. Zum Wohle der schwächeren Mitglieder unserer Gesellschaft wird nicht nur in die individuellen Grundrechte der Menschen eingegriffen, sondern sogar der Deutschen Heiligstes, die Wirtschaft stark eingeschränkt. So viel Zuwendung und Fürsorge ist sehr ungewohnt für diejenigen unter uns, die auch vor Corona schon als chronisch erkrankt galten und sich darüber bereits bewusst waren, jeden Tag höheren Gesundheitsrisiken ausgesetzt zu sein als andere Menschen. Diese neue Rücksichtnahme ist nicht nur ungewohnt, sie macht sogar misstrauisch. Viele Menschen mit Behinderungen erfahren am eigenen Leib, dass eben dieser sehr zerbrechlich sein kann und dass die eigene Sterblichkeit etwas sehr Reales ist, das zum eigenen Leben gehört. Und zugleich haben Menschen mit Behinderungen/chronischen Erkrankungen sehr lange dafür gekämpft, frei und selbstbestimmt zu sein.

Kann Fürsorge, die nicht selbstbestgewählt geschieht, sondern von außen als Gebot regiert, Selbstbestimmung sein? Können wir von Freiheit und Gleichheit sprechen, wenn Menschen mit Behinderungen oder ältere Menschen aufgrund ihres Etiketts weder ihr Zuhause verlassen noch Besuche empfangen dürfen, wie es in Behinderteneinrichtungen und Altersheimen der Fall ist? Wer bestimmt, was ein Risiko darstellt und wer wägt ab, welchen Preis wir für eine vermeintliche Sicherheit bereit sind zu zahlen? Und welchen Preis ist uns unsere mühsam durch all die Jahrzehnte errungene individuelle Freiheit wert?

Jede und jeder von uns wird auf diese Fragen unterschiedliche Antworten haben. Welche dies jeweils sind ist dabei nicht so wichtig. Wichtig ist aber, dass wir alle unterschiedliche Antworten auf diese Fragen haben und vertreten dürfen, dass wir selbst wählen dürfen, welches Risiko wir bereit sind, für ein freies Leben auf uns zu nehmen und dass wir, die am eigenen Leib erfahren haben, dass das Leben eine gefährliche und gefährdete Angelegenheit ist, die zu ernst ist, um sie nicht leicht zu nehmen, uns nicht zum Schweigen bringen lassen dürfen.

Drei Erkenntnisse haben Menschen mit Behinderungen/chronischen Erkrankungen allen anderen aktuell vielleicht voraus:

1. Hygiene war schon immer eine gute Idee, seit es Viren und Bakterien gibt

2. Soziale Distanzierung ist für Menschen unmöglich und sie ist es besonders dann, wenn wir warum auch immer auf Unterstützung durch andere angewiesen sind.

3. Wer zu viel Angst hat vor Ungewissheit und Risiko, der verweigert das Leben.

Was wir aktuell brauchen ist nicht Panik, nicht übertriebene Fürsorge, nicht noch mehr vermeintliche Sicherheit, sondern den Mut für das Risiko Leben und die Bewusstheit für dessen ganz besondere Zerbrechlichkeit.

Nicoletta Rapetti

BiBeZ-Team

Mehr zu dem Thema könnt ihr auch in folgendem Artikel lesen – Unter dem Motto „Echte Beteiligung schaffen“ ist Behindertenbeauftragter, Patrick Alberti im Interview: https://www.morgenweb.de/schwetzinger-zeitung_artikel,-oftersheim-echte-beteiligung-schaffen-_arid,1635833.html

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Inklusionsbeirat hat seinen Dienst aufgenommen (2020), abrufbar unter https://www.rhein-neckar-kreis.de/2434981.html

 

"Demokratie braucht Inklusion" - Jahresbericht 2018 der Kommunalen Behindertenbeauftragten Heidelberg, abrufbar unter https://bit.ly/35v4BQW

 

Bestandsaufnahme 10 Jahre UN-Behindertenrechtskonvention in Deutschland - Umsetzungsstand in Heidelberg, abrufbar unter https://bit.ly/2QPHnAM

 

Nachrichtendienst von und für Menschen mit Behinderungen - https://bit.ly/2KWABpa