Nicoletta Rapetti, BiBeZ e.V.
11.6.24
Europawahlen und Kommunalwahlen sind vorüber. „Europawahlen sind keine Bundestagswahlen“, diesen Satz hört man oft und er ist immer beruhigend und beschwichtigend gemeint. Doch die Zeit der Beschwichtigungen ist vorbei.
Und vielleicht haben gerade diese Beschwichtigungen ermöglicht, dass unsere politische Landschaft nun aussieht, wie sie aussieht. Demokratie muss immer offen und vielfältig sein und Widersprüche aushalten. Aber sie muss genauso konsequent sein, wenn sie selbst angegriffen wird. Und das ist nicht passiert.
Was bedeuten die nicht neuen, aber stark angewachsenen politischen Tendenzen für behinderte Menschen? Im Programm einer bestimmten Partei zur letzten Bundestagswahl findet sich unter anderem der Satz „Keine ideologisch motivierte Inklusion“. Im Programm zur Europawahl findet sich Inklusion lediglich noch an einer Stelle wie folgt: „Eine Inklusion um jeden Preis geht zu Lasten der Bildungsqualität aller Beteiligten.“ Weiter findet sich nichts mehr zum Thema Inklusion. Dieses Nichts muss nicht bedeuten, dass es dazu keine Idee gäbe; Es kann auch bedeuten, dass der Ansatz der Inklusion selbst nichtig ist, ebenso wie möglicherweise in diesem Denken behinderte Menschen selbst nichtig sind.
Auch das ist nicht überraschend. Und man muss nicht rechtsgesinnt sein, um sich kritisch mit dem Ansatz der Inklusion auseinanderzusetzen. Schon in Fachkreisen wird Inklusion teilweise als Utopie oder sogar als Einschluss der Ausgeschlossenen verstanden. Der Fehler im System sei, dass suggeriert werde, man könne Inklusion nicht umsetzen, da man ja viel verändern müsste. Da man das kaum könne oder zumindest nicht mache, würden behinderte Menschen doch in einem System eingesperrt, dass eben nicht an sie angepasst sei. Freilich werden hier Theorie und Praxis vertauscht, denn das eigentlich Problematische ist nicht, dass Inklusion nicht möglich wäre, sondern dass sie durch solche gutgemeinten und andere schlechter gemeinten Argumentationen schlicht verhindert wird.
Solche Auffassungen spielen all denen in die Hände, die niemals vorhatten, Strukturen anzupassen und Herrschaft zu hinterfragen. Auch die konservative Mitte, die sich dadurch auszeichnet, eben selbst zu sein, was sie nach außen vertritt, scheint die gravierende Gefahr solcher und noch viel klarer ausschließender rechter Auffassungen nicht sehen zu wollen oder zu können, da diese Mitte geradezu authentisch ist in ihrer Besetzung und damit ihrem Fokus auf die Welt.
Die Gefahr, die vom verstetigten Rechtsruck der politischen Landschaft ausgeht, ist nicht zu unterschätzen. Denn sie wird sich gravierend auswirken auf all diejenigen, die nicht der Ideologie dieses Denkens entsprechen. Und das sind nicht nur behinderte Menschen, sondern alle, denn dieses Denken ist nicht human orientiert. Wer sich fragt, wie es um eine Gesellschaft steht, sollte sich immer anschauen, wie in und mit den Randbezirken einer Gesellschaft umgegangen wird. Eben diese Randbezirke sind es, die die Frühwarnsysteme für das Verhalten einer Gesellschaft bilden. Wenn wir auf diese Warnsysteme nicht hören, brauchen wir uns nicht wundern, wenn uns der Tsunami überrollt, die Lava einschließt oder das Erdbeben alle Werte zertrümmert, die wir uns mühsam erarbeitet hatten nach dem letzten Trümmerfeld der Humanität.
Was könnten rechte Strömungen konkret für unser Handeln in Zukunft bedeuten? Sicher würde man sich noch stärker nach außen von Menschen abgrenzen und all diejenigen ausschließen, die aus nationalen Gründen als nicht zu „uns“ gehörend erklärt würden. Vielleicht würde man nach Innen wieder dafür sorgen, dass Verbesonderung herrscht und dass all diejenigen, die qua Biologie als unnormal definiert würden, sozial nicht mehr stattfinden, nicht mehr sichtbar sind. Und wer nicht sichtbar ist, hat keine Stimme. Und wer keine Stimme hat, hat kein Recht. Wollen wir das?
Schweigen und Verharmlosung sind nach dem Ergebnis dieser Wahlen nicht mehr angemessen und waren es nie. Aber vielleicht sind auch laute Demonstrationen, die doch dazu dienen, auf Missstände bestimmter Menschen hinzuweisen und Forderungen zu stellen, die in Konkurrenz zu anderen gesellschaftlichen Forderungen zu stehen scheinen, ebenso überholt. Denn irgendwie ist es zu spät.
Es ist und sollte verstehbar sein, wenn Menschen aus dem Eindruck heraus, dass niemand sich für den empfundenen Verlust an Zukunft und Lebensstandard interessiere, andere und radikalere Parteien wählen. Es ist nicht verstehbar, wenn Menschen damit eindeutig Unmenschlichkeit wählen. Und es ist noch weniger verstehbar, wenn dabei zugesehen und Menschlichkeit nicht verteidigt wird. Denn wer sich offen gegen Inklusion positioniert, positioniert sich offen gegen Vielfalt und Menschlichkeit.